„Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.“[1]

Nietzsche ist ein schwerer Einstieg in das Thema, aber es passt einfach.

Scham ist mir ein präsentes Gefühl und ich frage mich oft, warum jetzt in der Situation, in der Ausführung, in der Größe. WARUM??? 

Scham ist eine Emotion, genau wie Schuld und Interesse[2] und sie schleicht sich auch in mein Leben. Ich laufe hochrot an, bekomme nur noch ein halbherziges Lächeln raus oder ein unangepasstes Lachen und eigentlich sind das nur klägliche Versuche mein Schamempfinden herunterzuspielen. Es kombiniert sich auch mit dem Gefühl, dass sich doch bitte der Boden unter mir aufreiße und ich in dessen Tiefen verschwinden darf, für eine undefinierbare Weile zumindest so lange bis eine grün schimmernde Wiese darüber gewachsen ist. Manchmal erinnere ich mich sogar an Situationen, für die ich mich mal geschämt habe, die bereits Jahre zurückliegen und aus irgendeinem Grund sind sie wieder da. Auch in den unmöglichsten Situationen, z.B. kurz bevor man reden soll vor anderen Menschen, fühle ich mich erinnert, schäme mich und schiebe es dann aber „liebevoll“ beiseite. Ich habe jetzt schließlich keine Zeit zum Schämen. Klären wir doch an der Stelle ein bisschen was zum Thema Scham.

Was ist Scham eigentlich?

Definitiv ist es ein fieses Gefühl, was meist im Zusammenhang mit anderen Menschen steht und eine bestimmte Form der Öffentlichkeit braucht. Ich befinde mich in einer unangenehmen Situation und andere sehen mich dabei. Scham braucht den „Blick der Anderen“, um sich zu nähren und gewisse gesellschaftliche Konventionen. Ich habe also in der Situation, in der ich mich schäme, eine wichtige soziale Norm gebrochen. Was eine kulturelle Überschneidung beim Schämen darstellt. Scham fühlt sich also motiviert, wenn wir eine negative Reaktion unseres Umfeldes befürchten, was wiederum individuell ist und von den vorherrschenden gesellschaftlichen und kulturellen Wertvorstellungen abhängig ist. 

Aber Scham ist nicht gleich Scham. Auch hier dürfen wir verschiedene Ausführungen genießen, wobei jede Person Scham unterschiedlich intensiv empfindet. Das Spektrum ist breit und unterscheidet sich in der zeitlichen Orientierung. Es reicht von Verlegenheit über Fremdscham bis hin zur Demütigung. Verlegenheit ist dabei eher vorausschauend, wobei Scham sich eher auf die Vergangenheit orientiert. Ob es angeboren ist oder anerzogen scheint noch nicht umfassend geklärt. Man vermutet, wenn Kinder fremdeln, dass das eine Form des Schämens sei. Andere behaupten man müsse soziale Regeln verstehen können, um sich zu schämen. Feststeht, Scham ist etwas Universelles, das bei jeder Person unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann und sich abhängig macht von Alter, Geschlecht und Kultur. Eigentlich kann man Scham gut zusammenfassen als eine erweiterte Emotion, die durch soziale Trigger ausgelöst wird. 

Was löst Scham aus?

Der Psychoanalytiker Leon Wurmser bezeichnet Scham als einen archaischen Affekt und behauptet, dass der wichtigste Schamauslöser sei, wenn Menschen meinen, sie seien schwach. Mir begegnet Schämen immer im Zusammenhang mit der Frage „Bin ich ok“?

Was ich besonders spannend fand, dass Scham dieselben Gehirnregionen aktiviert wie die existenzielle Angst. Wir werden rot, senken den Blick, ziehen uns zurück oder können uns nicht mehr bewegen. Unsere grundlegenden körperlichen Funktionen werden zunächst in den Hintergrund gestellt. Der Psychologe Allen Schore bezeichnet das als einen massiv fehlregulierten Zustand. Das meint, dass Sympathikus und Parasympathikus gleichzeitig aktiv und passiv sind, was für Erröten und Schwitzen sorge, wir uns verwirrt fühlen und manchmal unser Körper zusammensackt.

Noch einmal kurz zum Thema „Oh du wirst ja ganz rot, das muss dir nicht peinlich sein“. Dieser Satz ruft für mich einen Grad der Aufmerksamkeit hervor, den ich als absolut unangenehm empfinde. Denn meine Scham, die ich so gern verborgen halten möchte, wird direkt von meinem Gegenüber benannt. Die Psychologin Sally Dickerson hat in dem Zusammenhang herausgefunden, dass beim Erröten eine Reaktion des Immunsystems erfolgt. Es wird ein Botenstoff aktiv, der bei klassischen Entzündungssymptomen ausgeschüttet wird. Und auch wenn rote Gesichtsfarbe in Kombination mit meiner sehr hellen Hautfarbe mich aussehen lässt wie ein Streichholz was sich jeden Moment entzündet, hat das auch etwas Positives.

Eine Studie in den Niederlanden hat herausgefunden, dass Menschen, die in peinlichen Situationen erröten, als wohlwollender angesehen wurden, als die, die nicht rot wurden.  

Welcher Scham-Typ bist du?

Leon Wurmser[3] unterscheidet drei grundlegende Aspekte von Scham.

  • Schamhaftigkeit als eine andauernde Haltung
  • Schamangst als die Vorwegnahme, dass ich mich in einer bestimmten Situation schämen könnte
  • Akute Scham die auftritt, wenn die üblichen gesellschaftlich, kulturellen Bedingungen und meine präventiven Maßnahmen gegen Scham nicht eingehalten werden können

Diese können in drei Schamtypen zusammengefasst werden:

  • Typus Scham bei „sozialer und körperlicher Abweichung“

Was so viel bedeutet, dass man*frau sich schämen kann, beim Sex für den eigenen Körper, beim Weinen in der Öffentlichkeit oder bei einem lauten Lachen in einer unpassenden Situation

  • Typus „grenzverletzendes Verhalten“

Sich schämen, wenn es öffentliche Kritik gibt, gelogen wurde oder eine andere gesellschaftliche Norm gebrochen wird.

  • Typus „Versagen oder Misserfolg“

Das bedeutet man*frau schämt sich, wenn z.B. Körperfunktionen nicht das machen, was man sich denkt was sie machen würden, wie versehentliches lautes Pupsen, Behauptungen die sich als Irrtum erweisen oder gemachte Fehler. Aber es gibt auch die Menschen, die sich schämen, wenn sie gelobt werden. Das sei einfach zu viel Aufmerksamkeit.

Ich würde gern noch eine weitere Kategorie aufmachen und zwar die Körperscham.

Eine Form des Schämens, die fast immer in der Sexualberatung Thema ist.

Denn es wird sich für bestimmte Körperregionen und/oder körperbezogene Handlungen geschämt. Diese sollen nicht gesehen, wahrgenommen oder gefühlt werden. Der Ethnologe Duerr meint, dass es in fast allen Kulturen wenigstens ein Minimum an körperlicher Scham gibt, bei dem es um den Geschlechtsverkehr oder die Genitalien geht. Jede Kultur habe unterschiedliche Regeln, wie viel in der Öffentlichkeit an Körperlichkeit okay ist.

Ich weiß nicht, wie es euch als Leser*innen geht, aber ich kenne zu jedem Schamtypus mindestens ein Beispiel aus meinem Leben. Ich glaube, ich habe mich schon unendlich oft geschämt.

Die anständige Scham und der schmutzige Sex

Scham und Sex gleichen für mich einer ausgeprägten toxischen Beziehung. Der intime und emotionale Charakter von Sex gibt Scham genug Platz zum Spielen. Wir offenbaren einander schließlich ein stück weit intimer als in jeder Kommunikation. Intimität macht verletzlich. Damit kann jede Störung in der Erregung Scham auslösen. Sexuelle Wünsche zu äußern oder über Phantasien zu sprechen wird scheinbar unmöglich. 

Gefühlt haben wir gut unzählbare Erlebnisse in denen wir als Kind gelernt haben, dass wir uns für unsere kindlichen Wünsche und körperlichen Spielereien schämen müssen. Das es „unverständlicher Weise“ nicht nur um uns geht. Damit erleben wir in unserer anfänglichen kindlichen Freiheit, tiefgekühlte Gefühle und körperliche Verbote kennen, die als Resultat ein übertriebenes Schämen mit sich bringen können.

Im Ergebnis leben viele Sexualität mit einem inneren „Jein“ und der Frage, genüge ich. Wie sehe ich denn eigentlich aus, ich verzieh bestimmt mein Gesicht ganz komisch beim Orgasmus, hoffentlich sieht er*sie meinen Bauch nicht, ist das jetzt zu viel, hoffentlich steht er lang genug uvm. So wächst die stetige Unsicherheit in der Sexualität und zur eigenen Lust. Sex macht uns emotional nackt und mit nichts als unserer Haut bedeckt, werden wir vom Gegenüber gesehen. Und mit unserer oft vollgepackten Schamerlebniskiste passen wir dann unser Verhalten sorgfältig und vorsorglich an. Auch wenn ich finde, dass unsere Gesellschaft toleranter geworden ist und wir über vieles reden, bleiben heute noch die weiblichen Geschlechtsorgane schambehaftet, unsere Kultur der Optimierung und des Perfektionismus nähren das Minderwertigkeitsgefühl und unerfüllte Rollenerwartungen stabilisieren unsere Schamgrenzen. Anlässe zum Schämen finden wir also immer und überall.

Doch was bringt es uns?

Der Nutzen der Master-Emotion Scham

Hinter all dem ganzen Schämen steht der Wunsch, den eigenen Platz in der Gemeinschaft nicht zu verlieren. Scham wirkt regulierend und wir versuchen uns einfach möglichst nah an der gesellschaftlichen Norm zu bewegen. „Ein Rückkopplungsmechanismus, der uns vor Extremen schützt.“[4] Maren Lammers[5] meint, dass dosiertes Schämen sogar nützlich sein kann für die eigene Entwicklung. Scham sichert uns prosoziales Verhalten und das Dazugehören. Es ist das Alarmsignal vor einer Identitätskrise. Menschen die sich schämen, scheinen beliebt zu sein, denn wir fühlen uns anscheinend sicher in ihrer Gegenwart. Sie vermitteln uns aufrichtig nicht ohne Fehler zu sein. Scham ist also ein Alarmsignal für Nähe und Distanz, zeigt Grenzen und betont Intimität und macht auf drohende Verluste aufmerksam.[6]

Aber hierbei spielt die Dosierung eine wichtige Rolle. Schäme ich mich zu viel oder gar nicht, kann auch das zur gesellschaftlichen Ausgrenzung und sozialen Isolation führen. Aber wofür ich mich niemals schämen sollte, ist der eigene Körper, denn für den gibt es keine gesellschaftlich vorgeschriebene Norm.

Kann ich Scham überwinden?

„Wer sich schämt, geht mit sich selbst ins Gericht. Er wird nicht übergriffig oder attackiert das Gegenüber“ (Daniel Hell)

Scham ist ein Gefühl, was wir nicht loswerden können, aber man kann sich durchaus die Frage stellen, wie kann ich besser damit umgehen. Da Sätze wie: „jetzt schäm dich doch nicht“ nur schwer umzusetzen sind und das Gefühl vermitteln „es sei ganz einfach“. Grundsätzlich gilt, man darf sich schämen. Scham geht glücklicherweise auch vorüber.

Den Wunsch Gefühle loszuwerden, die sich unangenehm anfühlen und das sich unentwegt Gedanken machen, kenne ich zumindest nur zu gut. Doch die Scham ist alt und wird auch bleiben, also stellt sich die Frage, wie kann ich gut mit ihr umgehen?

Folgendes erscheint mir sinnvoll.

  1. Lachen

Der Soziologe Thomas Scheff[7] empfiehlt das Lachen. Es kann entspannend auf einen selbst und ansteckend auf andere wirken, wenn wir in Situationen, in denen wir uns schämen, lachen.

  • Lerne dich selbst noch besser kennen. 

Achte gut darauf in welchen Situationen du dich schämst und wie du darauf reagierst. Stelle dir bewusst die Frage: Warum schäme ich mich gerade in dieser Situation? Vielleicht schreibst du einige Momente auf, um sie besser betrachten zu können. Damit könnte es dir gelingen “von außen” auf die Situation zu schauen. Hinterfrage dabei auch deine gelernten inneren Verbote, Muster und Regeln. Was brauchst du davon überhaupt noch? 

  • Überfordere dich nicht. 

Schau auf deine innere Verfassung und überprüfe welche Situationen du dich derzeit gut aussetzen kannst und was du dafür brauchst.

  • Sei authentisch!
  • Kommunikation on top 

Niemand kann unsere Gedanken lesen. Es könnte gut sein zu formulieren, warum man jetzt gerade seine Gesichtsfarbe eintauscht in hochrot.

  • Selbstmitgefühl

Betrachte dich in schwierigen Situationen wohlwollend und liebevoll. Das Schamgefühl sollte nicht dein Selbstbild komplett in Frage stellen oder mit einer Charakterschwäche gleichgesetzt werden. Sei in dem Prozess geduldig mit dir.

  • Therapie

Wenn Scham problematisch wird und an der Selbstachtung kratzt, kann eine Therapie helfen damit umzugehen. Sie zu identifizieren und zu akzeptieren, Auslöser verbal zu besprechen und schamfördernde Verhaltensweisen zu verändern. Die Psychologin Kristina Hennig-Fast meint, dass mit visueller Wahrnehmung, körper- und erlebnisbezogen gearbeitet werden sollte, um sich der eigenen Scham stellen zu müssen, um im Anschluss heilsame andere Erfahrungen zu machen.

Scham trifft den Kern unseres ICHs. Wir können von ihr etwas lernen und sie kann Schaden anrichten. Scham kann uns aber auch darauf hinweisen jeden Menschen in seinem*ihrem Wert bestehen zu lassen und Mitgefühl sowie Einfühlungsvermögen zu entwickeln. Dabei sollten wir das Mitgefühl für uns nicht vergessen und unsere eigene Unvollkommenheit „ein bisschen liebhaben“. Sie ist der Geburtsort für Innovation und Kreativität.

Brene Brown[8] sagte über die Scham und das beeindruckte mich nachhaltig. Scham ist der Sumpf der Seele, der drei Dinge braucht um zu wachsen, Heimlichkeit, Schweigen und Verurteilung. Dieser Sumpf ist aber nicht dazu da, um dort zu verweilen und ein Haus zu bauen. Sondern man sollte sich ein paar gute Stiefel anziehen, durchlaufen und sich gut auskennen.


[1] Friedrich Nietzsche (2014) Jenseits von Gut und Böse. DeGruyter, S. 78

[2] Sebastian Mauritz (o.J.) Scham und Verlegenheit. Abgerufen von https://www.resilienz-akademie.com/scham-und-verlegenheit/

[3] Prof. Dr. Bettina Schuhrke (2000) Zur Entwicklung des körperlichen Schamgefühls. Abgerufen von https://www.eh-darmstadt.de/fileadmin/user_upload/lehrende/Schuhrke/Schuhrke_Vortraege_Anhang.pdf

Leon Wurmser (1998) Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, 3. Erweiterte Auflage

[4] Karsten Möbius (2019) Scham ist ausgesprochen nützlich. Abgerufen von https://www.mdr.de/wissen/antworten/warum-schaemen-wir-uns-100.html

[5] Maren Lammers (2020) Scham und Schuld. Behandlungsmodule für den Therapiealltag. Stuttgart: Schattauer, 1. Auflage

[6] Daniel Hell (2018) Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen. Gießen: Psychosozial Verlag

[7] Johanna Stapf (2020) Darum schämen wir uns. Abgerufen von https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/darum-schaemen-wir-uns/ 

[8] Brene Brown (2012) TED2012. Listening to shame. Abgerufen von https://www.ted.com/talks/brene_brown_listening_to_shame/up-next#t-1206244

Lina Krämer (2017) Die Scham vor der Scham. Abgerufen von https://marta-blog.de/die-scham-vor-der-scham/